Irene Kohlbergers SALVETE

Jesus, Lehrer und Meister der Psychologie

Liebe Freunde!

Im folgenden möchte  ich euch einige Kapitel meines Jesus Buches vorstellen, das jetzt bereits gedruckt ist und über viele Internetverlage zu bekommen ist.

 

 
Jesus als Jugendlicher
 
 
Wenn wir wissen wollen, wie sich Jesus als Jugendlicher gefühlt, wie er die Welt
erlebt hat, dann müssen wir traurigen Herzens passen. Bis auf die Szene im Tempel,
wo Jesus mit den Schriftgelehrten diskutiert und ganz klar seine Selbständigkeit
gegenüber seinen Eltern hervorkehrt, erfahren wir nichts.
 
     Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte
     ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein
     Verständnis und seine Antworten. Als seine Eltern ihn sahen, waren sie
     sehr betroffen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das
     antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht. Da sagte er zu ihnen:
     Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich dort sein muss, was
     meinem Vater gehört? (Lk 2,46-49)
 
Eigentlich eine ziemlich patzige Antwort, die er den sorgenvollen Eltern gibt.
Wie hat er sich das eigentlich vorgestellt? Sollten die Eltern einfach heimgehen und sich um ihn nicht mehr kümmern und warten bis er, der Zwölfjährige von sich aus wieder auftaucht? Natürlich müsste man hier theologische Gründe geltend machen, um zu erklären warum der zwölfjährige Jesus so und nicht anders argumentiert.
Aber schimmert in diesem Text nicht auch die tausendfach erlebte Realität hindurch, dass Erwachsenwerden nicht ohne Kämpfe zu haben ist? Und könnte es nicht sein, dass Jesus in diesem Lebensmuster genauso drinnen steckte wie alle anderen Jugendlichen auch?
Vielleicht wird man einwenden, dass Jesus einen guten Grund hatte, um seine Eltern in Angst und Sorge zu versetzen und dass es bei unseren Jugendlichen meistens ganz anders liege. Das liegt auf der Hand. Doch vergessen wir nicht, dass auch unsere jungen Leute gute Gründe haben können, um sich von uns zu lösen; dass sie während ihrer nächtlichen Sitzungen, vielleicht ganz anders unterwegs sind, als wir es uns vorstellen. Und dass sie vielleicht Antworten auf ihre Lebensfragen woanders suchen und finden wollen, als ausschließlich bei uns, die wir allzu oft glauben, alles besser zu wissen.
 
     Dann kehrte er mit ihnen nach Nazareth zurück und war ihnen gehorsam. Seine
     Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen. Jesus aber wuchs
     heran, und seine Weisheit nahm zu, und er fand Gefallen bei Gott und den
     Menschen. (Lk 2,51/52)
 
Jesus unterwarf sich als Jugendlicher der schwierigen Aufgabe des geistigen Gehorsams, d.h., dass er damit den anstrengenden und mühsamen Weg betrat, der von der kindlichen Ich - Bezogenheit zur menschlichen Größe führt. Kaum andere Begriffe sind in unseren Zeiten so in Misskredit gekommen wie Demut und Gehorsam. Wir sind so gewöhnt, alles und jeden an unserem eigenen Urteil zu messen, dass wir den Wert einer bedingungslos erfüllten Forderung für die Entwicklung unserer Persönlichkeit fast nicht mehr wahrnehmen können.
Jesus ist seinen einfachen Eltern gehorsam. Er fragt nicht, ob sie mehr wissen als er, ob sie immer die richtigen Anordnungen treffen. Er versucht sich in der schwierigen Kunst der Selbstdisziplin, die uns normalerweise sehr viel abverlangt, aber schließlich in wirklicher Freiheit mündet und den geistig erwachsenen Menschen ausmacht.
Dass er zunahm an Weisheit, heißt mit anderen Worten, dass er nicht als menschlich verkleideter Gottessohn geboren wurde, sondern als wirklicher Mensch, der sich nicht nur körperlich, sondern auch im psychischen Sinn entwickelte. „Weisheit“ gewinnen wir, wenn unsere natürlichen Wünsche und Sehnsüchte mit den Forderungen unserer Umgebung in Konflikt geraten und es schließlich zu einer inneren Bewältigung dieser wiederkehrenden Problematik kommt.
Die Psychologie nennt dieses Phänomen „Erfahrung“, das als naturnotwendiger Prozess jede menschliche Entwicklung begleitet und auch für Jesus gilt.
 
Die Jugendzeit Jesu scheint auch noch ungetrübt von den Auseinandersetzungen, die später um seine Person entstehen. Noch lebt er eingehüllt in die Liebe und die Fürsorge seiner Eltern. Die Menschen seiner näheren Umgebung achten und lieben ihn, den sie als gehorsamen und rechtschaffenen Sohn, als hilfsbereiten jungen Mann vor Augen haben.
Noch darf er im Verborgenen leben, einfach nur ein junger Mensch sein, noch...
Dass es im Tempel vor der versammelten Männerriege ausgerechnet Maria ist, die ihren Sohn zur Rede stellt, verdient vielleicht auch noch unsere besondere Beachtung. Läuft doch wenn es heikel wird, die Erziehung über die Mutter: damals vor zweitausend Jahre wie heute.
Ohne viel nachzudenken über das, was sich in der Öffentlichkeit einer patriarchalischen Gesellschaft gehört oder nicht, gibt sie ihrer Angst und ihrer Verwirrung nach und stellt Jesus zur Rede.
Doch als er ihr und seinem Ziehvater den Grund für sein Hierbleiben erklärt, reagiert sie vorbildlich:
Was bedeutet der Satz:
    
Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen.(Lk 2,51b)
denn anderes, als dass sie ihm zugehört und sich seine Gründe zu Herzen genommen hat. Sie wehrt nicht ab und ist beleidigt, wie wir das gerne sind, wenn es um die Bedrohung unserer Vorrangstellung geht, sondern überdenkt was er sagt, um ihn immer besser zu verstehen.
Ungefähr achtzehn Jahre liegen dazwischen, bis Maria in eine ähnliche Situation gerät.
           
Am dritten Tag fand in Kana in Galiläa eine Hochzeit statt, und die Mutter Jesu war dabei.
Auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit eingeladen. Als der Wein ausging,
sagte die Mutter Jesu zu ihm: sie haben keinen Wein mehr. Jesus erwiderte ihr: Was willst du von mir Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Seine Mutter sagte zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut. Es standen dort sechs steinerne Wasserkrüge, wie es der Reinigungsvorschrift der Juden entsprach; jeder fasste ungefähr hundert Liter. Jesus sagte zu den Dienern: Füllt die Krüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis zum Rand. Er sagte zu ihnen: Schöpft jetzt und bringt es dem, der für das Festmahl verantwortlich ist. Sie brachten es ihm. Er kostete das Wasser, das zu Wein geworden war. Er wusste nicht woher der Wein kam; die Diener aber, die das Wasser geschöpft hatten, wussten es. Da ließ er den Bräutigam rufen und sagte zu ihm: Jeder setzt zuerst den guten Wein vor und erst, wenn die Gäste zuviel getrunken haben, den wenige guten. Du hast den guten Wein bis jetzt zurückgehalten. (Joh2,1-10)
 
Diesmal sind beide auf einer Hochzeit eingeladen. Jesus wird schon von seinen Jüngern begleitet, d.h., dass er schon in seinem Auftrag unterwegs ist und von seiner Mutter und seiner Familie zeitweise getrennt lebt. Dennoch kommt Maria sofort zu ihm, als sie von den Problemen im Hochzeitshaus erfährt und teilt ihm mit:
 
     Sie haben keinen Wein mehr! (Joh 2,3b)
     Darauf sagt Jesus: Was willst du von mir Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen!
Aus theologischer Sicht wird hier klar argumentiert. Wieder steht die Gottbezogenheit, die völlige Identität zwischen Jesus und seinem Auftrag im Mittelpunkt. Als er ihre unausgesprochene Bitte zurückweist, reagiert sie aber nicht gekränkt und beleidigt,
sondern vertraut auf ihr Gefühl und sagt zu den Dienern:
 
     Was er euch sagt, das tut! (Joh 2,5)
Es fehlen Diskussion und Auseinandersetzung. Es wird ein Standpunkt von männlicher Seite klar gemacht und auf weibliche Art akzeptiert; aber im Namen der Liebe einfach entthront. Welches lebendige Miteinander hat die beiden Menschen zu diesem Punkt geführt! Wo die Mutter ohne Angst und im vollen Vertrauen auf ihre gemeinsame Lebenserfahrung ihre Erwartung trotz deren Zurückweisung aufrechterhalten kann und schließlich belohnt wird.
 
 Berufung der Jünger
 
Doch zurück zur Berufung der Jünger. Auch dabei war Jesus nicht immer so erfolgreich, wie es vielleicht am Beginn seiner Missionstätigkeit den Anschein hatte.
So berichtet uns Markus:
 
    
     Als sich Jesus wieder auf den Weg machte, lief ein Mann auf ihn zu, fiel vor ihm
     auf die Knie und fragte ihn: Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben
     zu gewinnen? Jesus antwortete: Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut
     außer Gott, dem Einen. Du kennst doch die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst
     die Ehe nicht brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst keinen Raub begehen ;
     ehre deinen Vater und deine Mutter!
     Er erwiderte ihm: Meister, alle diese Gebote habe ich von Jugend an befolgt. Da 
     sah ihn Jesus an, und weil er ihn liebte, sagte er: Eines fehlt dir noch: Geh,
     verkaufe alles was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen
     bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komme und folge mir nach! Der Mann
     aber war betrübt, als er das hörte, und ging traurig weg; denn er hatte ein großes
     Vermögen. Da sah Jesus seine Jünger an und sagte zu ihnen: Wie schwer ist es
     für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen! Die Jünger
     waren über seine Worte bestürzt. Jesus aber sagte noch einmal zu ihnen: Meine
     Kinder, wie schwer ist es, in das Reich Gottes zu kommen!
     Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes
     gelangt. Sie aber erschraken noch mehr und sagten zueinander: Wer kann dann
     noch gerettet werden? Jesus sah sie an und sagte: Für Menschen ist das
     unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich. (Mk 10,17-27)
 
In einer Art Herzensüberschwang wirft sich der junge Mann vor Jesus nieder und will einen Rat, ein Rezept, wie er das ewige Leben gewinnen kann. Wahrscheinlich hat er schon viel von Jesus gehört und betrachtet ihn als „Guru“ für Himmelsfragen. Er gibt diesem Ansinnen aber nicht nach. Zuallererst steigt er bewusst vom Podest, worauf ihn der Mann hinaufgestellt hat und weist den Anspruch zurück, dass er gut sei.
 
... niemand ist gut, außer Gott, dem Einen.
Vielleicht scheint es uns ein bisschen merkwürdig, dass sich Jesus hier so deutlich distanziert, wo doch später im Johannesevangelium ganz klar herausgearbeitet wird, dass er mit Gott, dem Vater in einer ganz besonderen Weise verbunden ist.
Doch dürfen wir nicht vergessen, dass die Klarheit, mit der er über seine Beziehung zum Vater spricht, an seinen innersten Jüngerkreis gerichtet ist. Zwar werden auch sie kaum verstanden haben, was er mit Worten, wie:
 
      Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns
      sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast...(Joh 17,21)
wirklich gemeint hat. Doch haben sie so wie Maria gelernt, zuzuhören und seine Worte ernst zu nehmen.
 
 
 
 
Während seines frühen öffentlichen Wirkens suchte sich Jesus aber eher zu verbergen[1]. Immer wieder hören wir ihn zu den Geheilten sagen, dass sie über das Geschehene schweigen sollten, obwohl sich kaum jemand daran gehalten hat, weil es zu schön ist im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.
 
Um den Mann weiter herunterzuholen, verweist er ihn auf die Gebote, die jedem Kind bekannt sind. Das heißt, dass Jesus sich auf dessen Spielregeln nicht einlässt und seiner Forderung nach einem heldenhaften Spezialweg nicht nachgibt.
Als der Jüngling erwidert, dass er diese Gebote schon von Kindheit an beachte und noch immer die Augen erwartungsvoll auf ihn richtet, wird Jesus weich....
 
 Da sah Jesus ihn an, und weil er ihn liebte, sagte er: Eines fehlt dir noch: Geh, 
 verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden
 Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!
 
Doch damit hat der junge Mann nicht gerechnet. Diese Forderung scheint ihm zu rau und hart. Das würde bedeuten sein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen und dazu war er nicht bereit. Das Spiel war zu mühsam, weil es kein Spiel sondern bitterer Ernst zu werden drohte...
 
      Der Mann aber war betrübt, als er das hörte, und ging traurig weg.
Jesus hat ihn geliebt, wie wir bei Lukas lesen und wollte ihn um sich haben. Doch der junge Mann verweigert sich. Wie sich diese Verweigerung für Jesus angefühlt hat, darüber wird nicht berichtet. Doch wie wir aus eigener Erfahrung wissen, versuchen wir unsere verletzten Gefühle oft genug zu maskieren, indem wir ablenken und ungefährlich scheinende Themen vorschieben. Da Jesus aber oft beweist, dass er sich nicht scheut, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben, dürfen wir annehmen, dass er im Augenblick tatsächlich mehr mit den Ursachen kämpft, die den jungen Mann von ihm weggetrieben haben, als mit seiner persönlichen Enttäuschung.
 
Wenn ein Lieblingsthema von Jesus im Neuen Testament überhaupt ausfindig gemacht werden kann, dann ist es die Gefahr des Reichtums, des materiellen Besitzes. Immer wieder kommt Jesus auf darauf zurück. Ein Thema, das zweifellos ultramodern ist, aber allzu gern verniedlicht und relativiert wird. Wir kennen die Stelle mit dem Nadelöhr und dem Kamel - die oben zitiert wurde - aber wie alles, was uns zu gut bekannt und unangenehm ist, haben wir dieses Wissen längst in eine Schublade gepackt mit dem Titel: Eigentlich gilt das nicht für mich!
 
Für die Apostel, die es damals das erste Mal gehört haben, war es allerdings bestürzend und erschreckend. Wer, fragen sie sich, kann dann noch gerettet werden? Sie wussten genauso gut wie wir, dass die Neigung materielle Werte anzusammeln als natürliches Grundbedürfnis zum Menschen gehört. Weil wir unsere Existenz sichern wollen und dazu finanzielle Mittel brauchen, denken wir, je mehr desto besser. Doch Jesus spürt ihre Angst und tröstet sie, indem er sie von dieser Überforderung los spricht:
 
     Für den Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles
     möglich. (Lk 10,27)
Als Petrus noch ganz unter dem Eindruck des Gesagten Jesus fragt, was denn mit ihnen sein wird, die sie ja alles verlassen haben, geht er noch einen Schritt weiter und verspricht jedem von uns das Hundertfache unseres verlassenen Besitzes und das ewige Leben, wenn wir uns ihm und dem Evangelium, d.h. seinem Auftrag anvertrauen. Sehr klare Worte zu einem verdrängten Thema. Doch Verstehen und Begreifen ist eine Sache, danach handeln eine andere.
 
Zum Thema Nachfolge gibt es noch eine kleine Geschichte, die wir vielleicht noch aus der Volksschule kennen. Es geht um den blinden Bettler Bartimäus.
Er, der blinde Bettler und Jesus begegnen sich in der Nähe von Jericho. Jesus in eine Menge von Menschen eingezwängt, hört den Blinden rufen. Bartimäus nennt Jesus Sohn Davids und bittet ihn um Erbarmen. Jesus bleibt stehen und fragt ihn, was er von ihm wolle.
 
     Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können!
     Da sagte Jesus zu ihm: Geh’ dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick
     konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg. (Mk 10,51b-52)
 
In dieser Perikope steht Jesus wieder als der mächtige Wundertäter vor uns. Völlig eingebunden in seine Rolle als Lehrer und Helfer der Menschen. Doch so ganz am Rande glitzert es wieder. Warum folgt ihm der Bartimäus? Warum gerade er? Jesus hat viele geheilt und die Menschen zurückgelassen; bereit für neue Aufgaben in ihrem natürlichen Alltagsleben.
Was hat den Bartimäus bewogen, Jesus zu folgen? Nur Dankbarkeit oder etwas anderes? Hat es mit Jesus zu tun, von dem er glaubt, dass er der Messias ist?
Der Titel „Sohn Davids ,“ mit dem er ihn angeredet hatte, ließe den Schluss zu...[2] Oder war er von Jesus als Mensch berührt? Wir wissen es nicht, können nichts dazu sagen, nur spüren...
 
 Wunderheilungen
 
Ähnliches lässt sich auch über die Auferweckung eines Mädchens sagen, der einzigen Tochter eines Synagogenvorstehers.
     
       Als Jesus (ans andere Ufer ) zurückkam, empfingen ihn viele Menschen; sie hatten schon auf ihn gewartet. Da kam ein Mann namens Jairus, der Synagogenvorsteher war, und fiel Jesus zu Füßen und bat ihn, in sein Haus zu kommen. Denn sein einziges Kind, ein Mädchen von zwölf Jahren, lag im Sterben. Während Jesus noch redete, kam einer, der zum Haus des Synagogenvorstehers gehörte, und sagte (zu Jairus):deine Tochter ist gestorben. Bemüh den Meister nicht länger! Jesus hörte es und sagte zu Jairus: Sei ohne Furcht; glaub nur, dann wird sie gerettet. Als er in das Haus ging, ließ er niemand mit hinein außer Petrus, Johannes und Jakobus und die Eltern des Mädchens. Alle Leute weinten und klagten über ihren Tod. Jesus aber sagte: Weint nicht! Sie ist nicht gestorben, sie schläft nur. Da lachten sie ihn aus, weil sie wussten, dass sie tot war. Er aber fasste sie an der Hand und rief: Talita kum! Mädchen steh auf! Da kehrte das Leben in sie zurück, und sie stand sofort auf. Und er sagte, man soll ihr etwas zu essen geben. Ihre Eltern waren außer sich. Doch Jesus verbot ihnen irgendjemand zu erzählen, was geschehen war. (Lk 8, 40-42;49-56)
 
Obwohl das Mädchen schon gestorben war und es nach menschlichem Ermessen nicht mehr gerettet werden konnte, bleibt Jesus ganz ruhig und lässt die Nervosität und Aufregung, die ihn von allen Seiten umgibt, von sich abgleiten. Er fordert nur den Vater auf, an seinem Glauben festzuhalten, um das Mädchen retten zu können. Wieder ist es die Liebe, die siegreich bleibt. Der Vater vertraut ihm und das Mädchen wird ihm zurückgegeben.
Wenn man sich der Stimmung dieses Textes überlässt, dann spürt man, dass Jesus in diesem Fall sehr behutsam vorgeht und die kleine Familie vor den Folgen des außergewöhnlichen Ereignisses zu schützen versucht.
Schon im Augenblick, wo er das Haus betritt, versucht er seine „Arbeit“ herunter
zu spielen, indem er die Leute auffordert, ihr Klagen und Weinen einzustellen, weil das Mädchen nur schliefe. Damit kommt er aber bei den Fachleuten der Realität an die falsche Adresse. Was will er, der überspannte junge Mann? Will er ihnen vielleicht weismachen, dass das Mädchen noch lebt?
 
     Da lachten sie ihn aus, weil sie wussten, dass sie tot war.
 
Sie lachen ihn einfach aus. Einfach so, weil er einen offensichtlichen Unsinn daherredet.
Wie er sich dabei gefühlt haben wird? Ob er verärgert war? Wir wissen es nicht. Doch die Tatsache, dass er nur die Eltern des Mädchens und seine Lieblingsjünger in das Sterbezimmer des Kindes mitnimmt, lässt vermuten, dass er sich der Menge der Realisten „draußen“ zu entziehen suchte. Zu intim und fast zärtlich ist das, was sich in dem Zimmer abspielen wird.
  
 
Talita kum!
Sogar die aramäischen Worte, die Jesus wahrscheinlich wirklich gesagt hat, sind uns überliefert, ebenso wie die einfache Art und Weise, wie er die Eltern auf den Boden des gewöhnlichen Lebens zurückholt, indem er sie auffordert, dem Mädchen Essen zu geben.
Dass ihnen Jesus verbietet, irgendjemand zu erzählen, was geschehen war, erscheint auf den ersten Blick ziemlich sinnlos, da kaum anzunehmen war, dass die guten Leute von vorher an dem Schicksal des Mädchens jetzt nicht mehr interessiert wären. Im Gegenteil, jetzt erst recht möchten alle wissen was passiert ist. Und dennoch spricht er es aus! Warum? Vielleicht um sich selbst oder die Eltern zu schützen?
Obwohl er immer wieder die Geheimhaltung seiner Wunder einfordert, scheint es in diesem Fall nicht primär um ihn selber zu gehen. Viel eher scheint das Verbot zum Schutz der überforderten Eltern ausgesprochen. Wenn aus ihnen nichts herauszufragen war, würde man sie vermutlich in Ruhe lassen, auch dann wenn Jesus nicht mehr bei ihnen war, um sie zu schützen.
 
 
Sabbatgebot
 
 
Doch nicht immer gelingt es Jesus, die Menschen von seinem Weg der Liebe zu überzeugen. Besonders mühsam wird seine Aufgabe, wenn er es mit Leuten zu tun hat, die aufgrund ihrer Stellung, ihrer Bildung, ihres Ansehens, ect. einen Anspruch von Überlegenheit ableiten. Eine Tatsache, die kaum einer näheren Erklärung bedarf. Diese Haltung begegnet uns täglich auf Schritt und Tritt. Manchmal leiden wir darunter und manchmal, ja manchmal gehören wir auch zu denen, die genau zu wissen meinen, was für den Anderen gut und richtig ist.
 
So lesen wir bei Lukas:
 
    An einem Sabbat lehrte Jesus in einer Synagoge. Dort saß eine Frau, die seit achtzehn
    Jahren krank war, weil sie von einem Dämon geplagt wurde; ihr Rücken war gekrümmt,
    und sie konnte nicht mehr aufrecht gehen. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte:
    Frau, du bist von deinem Leiden erlöst. Und er legte ihr die Hände auf. Im gleichen
    Augenblick richtete sie sich auf und pries Gott. Der Synagogenvorsteher aber war empört
    darüber, dass Jesus am Sabbat heilte und sagte zu den Leuten: Sechs Tage sind zum
    Arbeiten da. Kommt also an diesen Tagen und lasst euch heilen, nicht am Sabbat! Der
    Herr erwiderte ihm: Ihr Heuchler! Binde nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen
    oder Esel los und führt ihn zur Tränke? Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan
    schon seit achtzehn Jahren gefesselt hielt, sollte am Sabbat nicht befreit werden dürfen?
    Durch diese Worte wurden seine Gegner beschämt; das ganze Volk aber freute sich überall die großen Taten, die er vollbrachte. (Lk 13,10-17)
 
Wie es oft der Fall ist, ergeben sich schon bei flüchtiger Betrachtung dieses Evangeliumstextes eine Vielzahl von Fragen und möglicher Antworten. Da es
aber hier um den Menschen Jesus geht, soll nur untersucht werden, welche psychologischen Mittel er in dieser Heilungsgeschichte einsetzt, um dem Vorwurf der Sabbatschändung entgegenzutreten[3]. In der Synagoge eines Landstädtchens – in Jerusalem wurde nur im Tempel gebetet[4] - begegnet Jesus einer kranken Frau. In Evangeliensprache ausgedrückt, geplagt von einem Dämon, nach dem Sprachgebrauch der modernen Medizin, wahrscheinlich an schwerer Arthritis erkrankt.
Sie tut ihm leid und er heilt sie in besonders liebevoller Weise, indem er ihr seine Hände auflegt. Sie soll spüren, dass er es gut mit ihr meint, obwohl schon sein Wort genügte, um sie gesund zu machen. Als sie voller Begeisterung und Glück ihr Dankgebet an Gott richtet, wird der Vorsteher der Synagoge aufmerksam und beginnt zu schimpfen. Sechs Tage habt ihr Zeit euch heilen zu lassen, aber ausgerechnet am heiligen Sabbat müsst ihr euch herandrängen, ect. ect. Ich denke, dass der Mann noch einiges zu sagen gewusst hätte, um so richtig klar zu machen, wie groß der Unterschied zwischen ihm, dem Amtsträger und der Frau war, die Jesus dazu gebracht hat, den Sabbatfrieden zu stören. Und weil sich Jesus das herausgenommen hatte, ist er natürlich mitschuldig. Damit wäre alles gesagt, so dachte sich vermutlich der Synagogenvorsteher. Doch Jesus lässt die Frau nicht im Stich. Er argumentiert messerscharf, entlarvt die Haltung des Synagogenvorstehers als völlig unbedacht und abwertend in Hinblick auf die Frau, die er als Tochter Abrahams gewürdigt haben will und die ein Recht darauf habe, auch am Sabbat von ihrem Leiden befreit zu werden. 
Im Moment geht Jesus als Sieger aus der Diskussion hervor. In einer ähnlich gelagerten Situation - allerdings vor einem vornehmen Publikum – wird auf dieselben Argumente aber nur mit schweigender Ablehnung reagiert. .
 
     Als Jesus an einem Sabbat in das Haus eines führenden Pharisäers zum Essen kam,
     beobachtetet man ihn genau. Da stand ein Mann, der an Wassersucht[5] litt. Jesus wandte sich an die Gesetzeslehrer und die Pharisäer und fragte: Ist es erlaubt am Sabbat zu heilen, oder nicht? Sie schwiegen. Da berührte er den Mann, heilte ihn und ließ ihn gehen. Zu ihnen aber sagte er: Wer von euch wird seinen Sohn oder seinen Ochsen, der in einen Brunnen fällt, nicht sofort herausziehen, auch am Sabbat? Darauf konnten sie ihm nichts erwidern. (Lk 14,1-6)
 
Im Rahmen dieser Erzählung fehlen Angriff und Widerspruch. Man beobachtet Jesus nur schweigend. Jesus heilt den Kranken, argumentiert gegen das gesammelte Schweigen, aber ohne Erfolg. Noch besitzt er den Status eines interessanten Mannes, den auch ein vornehmer Pharisäer zum Essen einladen kann.
Wenn man bedenkt, wie Jesus kritisiert wurde, ja gegen ihn polemisiert wurde[6], weil er sich von einem Zöllner einladen ließ, dann spürt man, wie wichtig Fragen der Gastfreundschaft damals genommen wurden.
Die Synagoge und der häusliche Tisch – diese beiden Orte von höchstem gesellschaftlichenRang – bilden auch den Hintergrund, wo das Thema menschliche Würde, einerseits und das Sabbatgebot andererseits real und emotional abgehandelt wird.
 
 
Jesus der Betende
 
In der Einsamkeit der Nacht, zurückgezogen auf abgelegenen Plätzen der Natur (manchmal auf einem Berg)[7] sucht Jesus das Gespräch mit seinem Vater. Er betet nicht vor allen Leuten, wie es damals üblich war, sondern zieht sich zurück. Dieses ungewöhnliche Zurückziehen war für die Jünger anfangs sicherlich befremdend. Doch später, als sie sich daran gewöhnt hatten, wollen sie seine Art zu beten lernen.
Und er lässt sich nicht lange bitten, sondern lehrt sie die grandiosen Verse des Vaterunsers. Das Gebet, das neben der vertrauensvollen Anrede, in fünf Bitten gegliedert alle großen Lebensfragen des Menschen berührt.
 
     Jesus betete einmal an einem Ort; und als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner 
    Jünger zu ihm: Herr lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat.
    Da sagte er zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, dein Name werde geheiligt. Dein
    Reich komme. Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen. Und erlass uns unsere
    Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist. Und führe uns nicht in
    Versuchung. (Lk 11,1-4)
 
Bei Matthäus ist das Thema in die große Bergpredigt eingebunden, wo einleitend noch vorausgeschickt wird, dass Demut und Zurückgezogenheit zum ehrlichen Gebet dazugehören.
 
    Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler. Sie stellen sich beim Gebet gern in die
    Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen,
    ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber geh in deine Kammer,
    wenn du betest, und schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen
    ist. Der Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.(Mt 6,5-15)
 
Scheinbar praktische und handfeste Antworten sind es, die Jesus den Jüngern auf ihre Fragen gibt, und dennoch erschließen sie ihnen und uns eine völlig neue Form der Gottesbeziehung.
Trotz Gewöhnung und Abstumpfung wird uns der Text des Vaterunsers immer wieder herausfordern, ob wir wollen oder nicht. Die im Vaterunser ausgesprochene Erwartung, dass Gott seine Vergebung an unsere Großzügigkeit und Bereitschaft zu verzeihen knüpfen solllte, ist ein so ungeheuerlicher Anspruch, dass damit wohl nie ein Mensch wirklich zu Rande kommt.
 
Auf den ersten Blick scheint auch die Art und Weise, wie Jesus den Wert des einfachen und schlichten Bittgebetes zu erschließen versucht, sehr vertraut und realitätsbezogen:
 
    Darum sage ich euch: Bittet, dann wird euch gegeben werden; sucht, dann werdet ihr
    finden; klopft an, dann wird euch geöffnet. Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der
    findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet. Oder ist unter euch ein Vater, der seinem
    Sohn eine Schlange gibt, wenn er um einen Fisch bittet, oder einen Skorpion, wenn er um
    ein Ei bittet? Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist,
    wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten.
    (Lk 11,9-13)
 
Fast überflüssig zu sagen, wie Jesus meisterlich mit Sprachbildern umgeht. Schlangen und Skorpionesind Lebewesen, deren Gefährlichkeit bis heuteeine bekannte Tatsache ist. Dass wir von Gott Vater dieselbe Reaktion erwarten können, wie von einem irdischen Vater, liegt auf der Hand. Doch dann ändert sich das Vergleichsmuster oder doch nicht? Es wird nicht gesagt, dass wir inhaltlich das bekommen, worum wir bitten, sondern die Gabe des Heiligen Geistes. Was wir unter der Gabe des Heiligen Geistes verstehen dürfen, bleibt eine Frage der Theologie. Wir können nur in Analogie zu den erbetenen Gaben schließen, dass der Heilige Geist eine lebensnotwendige Gabe für unser geistiges Leben bedeutet. Anders ausgedrückt, könnte es bedeuten, dass wir uns über das Rüstzeug zum geistigen Leben keine Gedanken machen sollen, sondern nur darum bitten brauchen. Aber gerade hier entsteht die Schwierigkeit. Wer von uns will denn geistige Gaben, wenn wir von den irdischen Glücksgütern noch nicht genug bekommen haben?
 
Wie viele andere Berichte des Evangeliums scheint auch der betende Mensch Jesus für uns im Schubfach der bedeutungslos gewordenen Inhalte abgelegt zu sein. Für uns moderne Menschen scheint Beten kaum mehr ein nahe liegendes Mittel zur Lebensbewältigung. Unser Vertrauen setzt auf menschliche Problemlösungen. Das mag vordergründig richtig erscheinen, wenn wir den gewaltigen technologischen Fortschritt betrachten, den Wissenschaft und vor allem die Medizin für die alltägliche Lebensbewältigung gebracht haben.
Wir „brauchen“ das Gebet nicht, wenn wir gesund, jung und erfolgreich sind. Wenn wir alles Lebensnotwendige im Supermarkt kaufen können....
 
Wenn wir uns die Mühe machen und den Spuren des betenden Menschen Jesus quer durch den Text des Evangeliums nachgehen, dann fällt auf, dass sehr oft von seinem beten die Rede ist. Jesus betet nach langen und anstrengenden Arbeitstagen. Er betet bevor er den Lazarus wieder ins Leben zurückholt. Er betet für seine Jünger. Er betet vor seiner Verklärung am Berg Tabor. Er betet am Ölberg und fordert seine Jünger auf zu beten, damit sie nicht in „Versuchung fallen“, d.h., dass sie sich durch das Gebet einen geistigen Schutzraum formen sollten, der sie vor ihrer eigenen Schwäche bewahrt.
Er betet am Kreuz für seine Peiniger und betet im Augenblick seines Todes.
Es scheint so, dass Jesus in jeder Situation oder besser noch, wie der Apostel Paulus sagt[8], ununterbrochen gebetet hat.
Ja, kann man das überhaupt, ununterbrochen beten? Man muss doch arbeiten. Wenn man mit anderen Menschen redet, kann man doch nicht gleichzeitig beten? Und überhaupt, wie soll man in einem anstrengenden Alltagsleben Ruhe finden, um zu beten? Diese Argumente werden oft und oft vorgebracht und bleiben dennoch fragwürdig!
 
Ich denke, dass Beten sehr gut mit dem Erlernen einer fremden Sprache vergleichbar ist. Solange wir uns nicht die Mühe machen, zumindest einige Grundvokabeln zu lernen, wird die fremde Sprache an unserem Ohr vorbei klingen. Ohne Sprache können wir mit anderen Menschen nicht wirklich kommunizieren. Gewiss können wir auf Gesten und andere Hilfsmittel zurückgreifen, um uns zu mitzuteilen. Doch zu einem tieferen Verständnis der Lebenswirklichkeit von anderen Menschen gelangen wir nur durch die Sprache.
Dasselbe geschieht auf einer anderen Ebene, wenn wir nie damit beginnen, mit Gott wirklich ins Gespräch zu kommen. ER ist immer dazu bereit. Doch wir müssten wenigstens versuchen SEINE SPRACHE, um in dem Bild zu bleiben, ansatzweise zu erlernen. Ohne Übung und Bemühen geht nichts in unserem Leben. Nichts ist selbstverständlich. Nur sehr wenig fliegt uns ohne Mühe zu. Auch das größte Genie muss sein Handwerk lernen, bevor es seine künstlerischen Höhenflüge antreten kann.
Das wissen wir und handeln im normalen Leben auch danach. Nur beim Beten erwarten wir, dass alles von selbst geschieht; nicht bedenkend, dass Gott unsere Freiheit unangetastet lässt. ER wartet auf unser vertrauensvolles Aufblicken, auf unsere Zuwendung, unsere Bereitschaft mit IHM zu reden. ER drängt sich uns nicht auf. Es liegt an uns, das Gespräch zu beginnen, ihn „anzurufen“, IHM zuzuhören –
ja zuzuhören, wenn ER uns den berühmten dritten Weg eröffnet, der uns aus den Sackgassen und Labyrinthen unserer beschränkten Vorstellungen herausführt.
 
 
Zum Prozess Jesu
 
 
Obwohl wir bei Johannes immer berücksichtigen müssen, dass er uns Jesus in seiner Hoheit und Göttlichkeit zeigen will, hört sich das Gespräch zwischen ihm und Pilatus doch ziemlich realistisch an. Schon der Beginn des „Verhörs“ wo Jesus klarstellen will, ob ihn Pilatus wirklich als König sieht, oder nur andere Meinungen wiedergibt, spüren wir, wie Jesus den Prokurator in seiner eigenwilligen Art herausfordert.
Darauf reagiert Pilatus gereizt und gibt ihm zu verstehen, dass er kein Jude sei und Jesus von seinen eigenen Leuten ausgeliefert wurde. Pilatus distanziert sich dadurch von persönlichen Ressentiments ihm gegenüber und schafft eine Basis, die es Jesus ermöglicht ihm seine Situation zu erklären.
Pilatus hört ihm zu und zieht seine Schlüsse, u.a. mit der weltumspannenden Frage: Was ist Wahrheit?
 
     Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu
     ihnen: Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen. Ihr seid gewohnt, dass ich euch
     am Paschafest einen Gefangenen freilasse. Wollt ihr also, dass ich euch den
     König der Juden freilasse? Da schreien sie wieder: Nicht diesen, sondern
     Barabbas! Barabbas aber war ein Straßenräuber. (Joh 18,38b-40)
 
Es ist nicht viel, was uns von dem Gespräch zwischen Pilatus und Jesus überliefert wird. Doch es scheint klar, dass er den römischen Landpfleger beeindruckt hat. Und das, obwohl er keine Wunderheilungen oder andere Zeichen von ihm erlebt hat, sondern nur von seiner Persönlichkeit „berührt“ werden konnte. Die Folge davon ist, dass er ihn zu retten versucht.
Nur so ist es zu verstehen, dass er in völliger Verkennung des wahren Zusammenhangs den Juden anbietet, Jesus im Sinne eines Paschageschenkes freizulassen[9]. Vielleicht hoffte er, sie damit zu besänftigen oder umzustimmen. Doch gerade das Gegenteil tritt ein. Noch während der Verhandlung haben die Hohepriester und Ältesten die Menge überredet, die Freilassung des Barabbas zu fordern, Jesus aber hinrichten zu lassen.
Und sie schreien nach Barabbas, einem wirklichen Verbrecher, der wegen Aufruhrs und Mord im Gefängnis war. Dieser war ihr Mann, nicht Jesus.
 
     Darauf ließ Pilatus Jesus geißeln. Die Soldaten flochten einen Kranz aus Dornen;
     den setzten sie ihm auf und legten ihm einen purpurroten Mantel um. Sie stellten
     sich vor ihn hin und sagten: Heil dir, König, der Juden! Und sie schlugen ihm ins
     Gesicht. Pilatus ging wieder hinaus und sagte zu ihnen: Seht ich bringe ihn zu euch
     heraus; ihr sollt wissen, dass ich keinen Grund finde, ihn zu verurteilen.
     Jesus kam heraus; er trug die Dornenkrone und den purpurroten Mantel. Pilatus
     sagte zu ihnen: Seht, da ist der Mensch! Als die Hohenpriester und ihre Diener ihn
     sahen, schrien sie: Ans Kreuz mit ihm, ans Kreuz mit ihm! Pilatus sagte zu ihnen:
     Nehmt ihr ihn und kreuzigt ihn! Denn ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen.
     Die Juden entgegneten ihm: Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er
     sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat. (Joh 19,1-7)
 
Was sich Pilatus dabei gedacht hat, als er Jesus zur Geißelung freigab, obwohl er wusste, dass er unschuldig war? Dachte er an die Feste zu Hause in Rom, wo die blutigen Spiele die Leute besänftigten und ablenkten? Wollte er durch die Geißelung sein Leben retten? Diese Überlegung liegt nahe, wenn er Jesus später
vor die aufgebrachte Menge führt, blutig geschlagen, mit einem Fetzen um die
Schultern geschlungen und einer Dornenkrone am Kopf.
Sein: „Ecce, homo!“ - „Seht, da ist der Mensch!“ lässt spüren, dass er an ihr Mitleid appelliert. Doch es nützt nichts. Er verkennt die Mentalität und den fanatischen Willen, der hinter dem Wunsch nach Beseitigung, nach Ausmerzung dieses Menschen steht, der wie kein anderer zuvor ihre ganze fest gefügte elitäre Lebenswirklichkeit in Frage stellt. Von ihrem fanatischen Eifer eingeschüchtert, geht Pilatus wieder zurück ins Prätorium und beginnt mit Jesus zu reden. Er fragt ihn, woher er stammt, aber Jesus gibt ihm keine Antwort. Da fährt Pilatus auf und sagt:
 
     Du sprichst nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe dich freizulassen,
     und Macht dich zu kreuzigen?
     Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben
     gegeben wäre; darum liegt größere Schuld bei dem, der mich dir ausgeliefert hat.
     Daraufhin wollte Pilatus ihn freilassen, aber die Juden schrien: Wenn du ihn
     freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich als König ausgibt, lehnt
     sich gegen den Kaiser auf. Auf diese Worte hin ließ Pilatus Jesus herausführen, und er 
     setzte sich auf den Richterstuhl an dem Platz, der Lithostrotos, auf hebräisch Gabbata,
     heißt. Es wa am Rüsttag des Paschafestes, ungefähr um die sechste Stunde. Pilatus
     sagte zu den Juden: Da ist euer König! Sie aber schrieen: Weg mit ihm, kreuzige ihn!
     Pilatus sagte zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten:
     Wir haben keinen anderen König außer dem Kaiser. Da lieferte er ihnen Jesus
     aus, damit er gekreuzigt würde. (Joh 19,10b-16a)
 
Die Position von Pilatus ist während dieser ganzen Auseinandersetzung ungeheuer schwierig. Auf der einen Seite spürt er den Druck, der auf ihn ausgeübt wird, auf der anderen Seite ist er überzeugt, dass er ihnen mit Jesus einen Unschuldigen preisgibt. Und noch ist er nicht so verroht, dass er das ohne Skrupel tun kann. Er ist dem Willen der Hohepriester ausgeliefert und Jesus ihm. Und es scheint fast, dass er in seinem inneren Zwiespalt von Jesus erwartet, dass dieser ihm irgendwie aus der Situation heraushilft. Nur so ist es zu erklären, dass er ihn fragt, woher er stammt.
Was soll diese Frage? Will er Zeit gewinnen? Ein freundschaftliches Gespräch anfangen?
Als Jesus dieses Ansinnen verweigert, fährt er wieder auf und schleudert ihm seine Machtposition entgegen. Doch Jesus pariert den Angriff und gibt ihm zu verstehen, dass ihm seine Macht nur geliehen ist, womit er ihn gleichzeitig auch von der Letztverantwortung über sein Schicksal befreit. Damit hat Jesus Pilatus tatsächlich geholfen, indem er den Sachverhalt zumindest klärte, worauf dieser im Gegenzug wieder versucht, ihm das Leben zu retten. Doch draußen, vor der Menge, hält er dem Druck nicht stand. Als sie ihm damit kommen, dass er sich mit seinem Verhalten dem Kaiser widersetze, wird er langsam mürbe. Obwohl er am Richterstuhl Platz nimmt, um sich damit in die Aura seines Amtes einzuhüllen, schafft er es nicht sich durchzusetzen. Zudem scheint er nicht zu merken, dass er gerade durch die Betonung der Königswürde von Jesus Öl ins Feuer gießt.
 
Wenn man das ganze Geschehen aus Distanz betrachtet, dann kann uns der ganze Prozess nur zum Kopfschütteln bringen. Wo sind hier Gerechtigkeit und Recht geblieben? Wo ein ordnungsgemäßes Verfahren? Wo Zeugenaussagen und Verteidigung?[10]
Im Grunde handelt es sich um offene Erpressung, die von der Priesterschaft und einer schreienden Menge dem römischen Landpfleger zugemutet wird ... und er geht darauf ein, ohne zu bedenken, dass ein Trupp seiner Soldaten genügen würde, um das Ganze zu einem schnellen Ende zu bringen. Doch die Eigendynamik des ganzen Geschehens ließ diese einfache Lösung offenbar nicht mehr zu.
 
 
 


[1] Mt 8,1-4
 Jesus aber sagte zu ihm (dem Aussätzigen, den er geheilt hatte):Nimm dich in acht! Erzähle
 niemand davon, sondern geh, zeig dich dem Priester (der als Gesundheitsbehörde dessen
 Heilung bestätigen musste) und bring das Opfer dar, das Mose angeordnet hat. Das soll für sie
 ein Beweis (deiner Heilung) sein.
 Mk 7,31-32
  Jesus verbot ihnen, jemand davon (der Heilung eines Taubstummen) zu erzählen. Doch je
 mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt. Er hat alles gut gemacht; er macht,
 dass die Tauben hören und die Stummen reden.
[2] Jes 9,1-6
[3] Ex 20, 8-11
[4] Ez 43, 7
[5] ...vermutlich chronisches Herzleiden
[6] Mk 2,16
 Als die Schriftgelehrten, die zur Partei der Pharisäer gehörten, sahen, dass er mit Zöllnern und
 Sündern aß, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann er zusammen mit Zöllnern und Sündern
 essen? Jesus hörte es und sagte zu ihnen: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die
 Kranken. Ich bin gekommen die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.
[7] Bereits im ALTEN TESTAMENT finden wichtige Gottesbegegnungen auf Bergen statt:
    Ex 19,3 
    1Kön 18,1-46
    Ez 40, 2        
.
                    
[8] 1 Thess 5,17
 
[9] BEN CHORIN aaO. S 205
   Das Privileg Paschale, eben jener Freigabe eines Verurteilten zum am Passah-Feste im Rahmen
   einer Amnestie lässt sich geschichtlich quellenmäßig nicht bezeugen.
[10] Vgl. BENDA Richard: Geschichte der Fahndung S 32

 

 
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