Irene Kohlbergers SALVETE

Deutschland


Anders als die Staaten der Aliierten, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg als Sieger hervorgingen, hat sich für  Deutschland  nach den verlustreichen  Niederlagen der beiden Weltkriege ein emotionaler Vorhang  vor der älteren Geschichte geschlossen. Zwar besteht das Deutsche Reich seit 1871 als geeinigtes Kaiserreich, doch davor war die heutige Bundesrepublik Deutschland ein Fleckerlteppich aus einer Vielzahl von Fürstentümern. Zwar waren sie unterschiedlich groß und mächtig, doch im wesentlichen überschaubarer und vor allem kulturell eigenständig. Und diese  kulturelle Kraft spiegelt sich in Architektur und bildender Kunst ebenso wieder, wie in der Musik und der Literatur. Musik und Literatur sind „bewegliche“ geistige Werke, die man transportieren kann. Ähnliches gilt auch für Gemälde und Skulpturen, die unter Versicherungsschutz von Ort zu Ort gebracht und in Ausstellungen präsentiert werden können. Doch lassen sich die Räume, zu denen die Bilder und Plastiken ursprünglich gehören, nicht verpflanzen und daher ist es notwendig  dorthin zu reisen,  wo sie ursprünglich entstanden und errichtet wurden. Und die Kirchen und Paläste – die Gartenanlagen und Städte – die Atmosphäre die aus dem Zusammentreffen von Früher und Jetzt entsteht  – machen das Reisen notwendig und schön.

 Ich bin in der Vergangenheit viel in Europa herumgekommen, Deutschland war nicht dabei. Der Fluch des Eisernen Vorhanges hat unsere Jugend überschattet und ich brauchte lange, bis ich die geänderten Verhältnisse auch in den tieferen Regionen meines Gefühls akzeptieren lernte. Dazu kam, dass in meiner Vorstellung die Kriegszerstörungen in Deutschland alles kulturell Wichtige in den Abgrund gerissen haben und ich bei einer frühen Begegnung mit dem wiedererrichteten Nürnberg sehr unglücklich zwischen den Fassaden herumgewandert bin, wo in  bemühter Weise alte Erker in neue Hausfassaden eingefügt wurden, wodurch die Künstlichkeit der Wiedererrichtung noch mehr betont wurde.

Danach vermied ich lange Zeit nach Deutschland zu reisen – obwohl so kleine Stippvisiten nach München in die Pinakothek oder nach Berchtesgaden – also in unmittelbarer Österreichnähe – schon stattfanden.

Den großen Umschwung verdanke ich meinem Freund Clemens, der mich nach Pfronten, das mitten im Allgäu liegt, einfach einlud und wo ich längere Zeit auch blieb. Und inmitten der Traumlandschaft des Voralpengebietes fand ich den Zugang zu diesem grandiosen Kulturhintergrund, den Deutschland zu allen Zeiten für Europa bereitgestellt hat – angefangen in der Römerzeit, wo Trier lange Zeit als Augusta Treverorum zur Kaiserresidenz erhoben wurde, bis heute, wo Deutschland als wirtschaftliche Großmacht den Europäischen Geist wesentlich mitbestimmt.

Ich habe bisher nur wenige Bereiche Deutschlands wirklich erkundet – doch eines ist sicher –  kulturelle Schätze der mittelalterlichen Vergangenheit und der Epochen danach, sind überreich erhalten, einerseits gerettet durch vorausschauende Geister und andererseits durch einfühlsame Restaurierung der Nachkriegsgeneration.

Was mich in Nürnberg so unglücklich machte, lag zweifellos am Ausmaß der Zerstörung. Offenbar gibt es eine kritisches Maß der Zerstörung. Vor zwei Jahren besuchte ich Dresden und bewunderte am Dresdner Zwinger die grandiose Leistung von authentischer Rekonstruktion – dasselbe gilt auch für die Frauenkirche, die im übrigen ein architektonisches Meisterwerk darstellt, und zwar sowohl für die Zeit ihrer Konstruktion als auch ihrer Wiedererrichtung. Doch wenn man nur wenige Meter aus dem „geschützten Bereich“ des Zwingers hinauswandert – dann wird alles fragwürdig und es beginnt der Schmerz, angesichts der Plattenbauten, der weiten Straßenflächen, die erst so richtig das Gefühl für das Ausmaß der Zerstörung entstehen lassen. Gleichzeitig wird dem Betrachter bewusst, wie sehr das Gesamtambiente, z.B. die Gründerzeitbauten oder vielleicht auch die alten Barockpaläste, die kein Baedecker beschreibt, aber die einfach dazugehören, hier fehlen. Das können auch der wiedererrichtete Zwinger und die Semperoper nicht ersetzen. Und es erhebt sich die philosophische Frage, was wir als Touristen wirklich erleben, wenn wir fremde und wichtige Stätten und Städte besuchen?

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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